Die
Ideengeschichte und ihre Nachbardisziplinen
26.-28. September 2008 im
Deutschen
Literaturarchiv Marbach
Ziel der Tagung ist es, eine
wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme
der im
deutschsprachigen Raum revitalisierten Tradition der Ideengeschichte
vorzunehmen und so eine verlässliche Übersicht
über die aktuellen Aufgaben und
Perspektiven dieser in eine Vielzahl von geisteswissenschaftlichen
Disziplinen
und Forschungszusammenhänge ausstrahlenden Form der
Geschichtsschreibung zu
erarbeiten. Die besondere Dringlichkeit der Fragestellung ergibt sich
aus der
hochgradigen Ausdifferenzierung, ja Zersplitterung des
ideengeschichtlichen
Feldes, das sich auf den ersten Blick als ein nur sehr loses Aggregat
von
Einzelvorhaben und methodischen Orientierungen darbietet. Zudem stellt
sich
angesichts jüngerer kulturwissenschaftlicher und
historisch-semantologischer
Entwicklungen die Frage nach der Haltbarkeit des im Disziplinentitel
‚Ideengeschichte'
gebrauchten Begriffs ‚Idee': Handelt es sich nicht um ein
Konzept, das sowohl
durch begriffshistorische, diskursanalytische, wissenssoziologische
Forschungsprogramme
als auch durch Fortschritte in der Philosophie des Geistes und der
Neurowissenschaften als überholt gelten muss?
Beschreibung
Das neuerwachte Interesse
an der Ideengeschichte (history of ideas,
histoire des idées,
storia delle idee) gibt Anlaß, eine
möglichst genaue und übersichtliche
Bestandsaufnahme der Errungenschaften, Probleme und
Entwicklungsmöglichkeiten
dieser Tradition historischer Forschung in Angriff zu nehmen:
Diese Fragen führen
auf das
Desiderat einer Komparatistik des ideenhistorischen Feldes, deren
wissenschaftstheoretische
und wissenschaftshistorische Analysen die ideenhistorische Praxis in
umsichtiger Weise über prozedurale Gemeinsamkeiten und
Unterschiede,
systematische Probleme und noch unausgeschöpfte Potentiale
orientieren könnten.
Daß sich diese Komparatistik nicht durch eine Zentralinstanz
herstellen,
sondern nur im Dialog der Praktiker, die über eine Vielzahl
einschlägiger
Kenntnisse und Spezialkompetenzen verfügen, erarbeiten
läßt, liegt auf der
Hand. Ebenso, daß verläßliche Orientierung
auf Kritik von außen angewiesen ist.
Ideenhistorikerinnen und Ideenhistoriker sollten also daran
interessiert sein,
sich mit Systematisierungen der Historie zu konfrontieren, die den
Anspruch
erheben, die Ideengeschichte abzulösen.
In diesem Sinne wird das
Marbacher Symposion Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus
Großbritannien,
den USA, Frankreich, Italien und Deutschland zu einem
Expertengespräch über die
Ideengeschichte und ihre Nachbardisziplinen zusammenführen. Es
soll der
genetischen und systematischen Selbstaufklärung einer
international
ausgreifenden und dementsprechend vielgestaltigen Forschungstradition
dienen
und auf die für sie charakteristischen Formen der
Transgression von
Disziplingrenzen und des interdisziplinären Austauschs
reflektieren.
Neben der in den USA und in
Italien schon des öfteren diskutierten und freilich auch dort
nicht einheitlich
gesehenen Zuordnung von Ideengeschichte und Philosophiegeschichte soll
vor
allem das Zusammenwirken von Ideengeschichte und Literaturgeschichte,
Ideengeschichte
und Kunstgeschichte sowie Ideengeschichte und Mediengeschichte zum
Gegenstand
komparatistischer Rekonstruktionen werden.
Darüber hinaus wird
das
Verhältnis der Ideengeschichte zu anderen
Integrationsdisziplinen historischer
Forschung zu erörtern sein. Man denke für den
deutschsprachigen Bereich an die
ehedem höchst wirkungsmächtige Geistesgeschichte
in der Nachfolge
Diltheys, für den angloamerikanischen Bereich an das
ungebrochen erfolgreiche
Projekt der intellectual history. Welchen
Einfluß, so wird zu fragen
sein, haben die Begriffsschemata und die Untersuchungsmethoden der Geistesgeschichte
auf die Ausbildung der angelsächsischen history of
ideas ausgeübt?
Inwiefern konvergieren und inwiefern divergieren die jeweiligen
Syntheseansprüche
und der Gebrauch hoch aggregierender Konzepte von
untersuchungsgegenständlichen
Schulen, Richtungen, -ismen, intellektuellen Strömungen und
Epochen? Analog ist
das Verhältnis von Ideengeschichte und intellectual
history zu befragen:
Inwiefern bleibt die intellectual history der
Gegenwart auch dort auf
Kategorienbildungen und historiographische Muster der history
of ideas
angewiesen, wo sie den überlieferten Disziplinnamen in der
Meinung zu vermeiden
sucht, daß er in die Irre, nämlich zu einer
Auffassung führe, „welche die
Gegenstände der Disziplin als autonome und reine Abstraktionen
des Geistes definiert“.
Seit den 1960er Jahren sind
Nachbardisziplinen der Ideengeschichte entstanden, die sich dezidiert
als
Nachfolgedisziplinen verstehen – sei es, daß sie
wie Foucaults diskursanalytische
Archäologie „die Preisgabe der
Ideengeschichte, die systematische
Zurückweisung ihrer Postulate und Prozeduren“
propagieren, sei es, daß sie den
Anspruch erheben, ideengeschichtliche Erkenntnisziele in material
breiter
basierten, analytisch feinmaschigeren und explanatorisch ergiebigeren
Untersuchungsverfahren aufzuheben. Man denke für den
deutschsprachigen Bereich
an Reinhart Kosellecks Verbindung von Sozialhistorie und Begriffsgeschichte
oder an Niklas Luhmanns systemtheoretisch unterbaute Fortentwicklung
der Wissenssoziologie,
die beide nach den gesellschaftsstrukturellen
Bedingungszusammenhängen
tiefgreifender Umformungen überlieferten Ideengutes fragen.
Keine besonnene
Option für Ideengeschichte kann heute die Existenz dieser
programmatisch
alternativen bzw. programmatisch umfassenderen Forschungsprogramme
ignorieren.
Ebensowenig kann sie Wissenschaftsentwicklungen wie der new
cultural history,
der Renaissance der Problemgeschichte oder dem Boom
der historischen
Metaphorologie aus dem Wege gehen. Ideenhistorikerinnen und
Ideenhistoriker
sind auf eine Klärung des Verhältnisses ihrer Arbeit
gerade auch zu diesen
Nachbardisziplinen angewiesen. Die Zukunft der Ideengeschichte wird
entscheidend
davon abhängen, in welchem Maße es gelingt, ihre
Eigenständigkeit und
Produktivität im System der Geistes- und Kulturwissenschaften
auszuweisen. Das
Marbacher Symposion wird dazu beitragen, indem es die Theoriegrundlagen
und
Vorgehensweisen der Ideenhistorie – von der Begriffsbildung
bis zur konkreten
Geschichtserzählung – zum Gegenstand
komparatistischer Analysen und Reflexionen
macht. Dies soll in drei Sektionen geschehen:
1. Die Ideengeschichte im
System der Geistes- und Kulturwissenschaften
2. Die Ideengeschichte und
andere Integrationsdisziplinen der Historie
3. Ablösung der
Ideengeschichte durch Begriffsgeschichte, Diskursanalyse oder
Wissenssoziologie?
Hans Erich
Bödeker (Göttingen)
Warren Breckman
(Philadelphia)
Alexandre
Escudier (Paris)
Petra Gehring (Darmstadt)
Anthony
Grafton (Princeton)
Hans-Ulrich
Gumbrecht (Stanford)
Helmuth
Kiesel (Heidelberg)
Margarita
Kranz (Berlin)
Reinhard
Laube (Marbach)
Hermann
Lübbe (Zürich)
Martin
Mulsow (Rutgers/Erfurt)
Otto
Gerhard Oexle (Göttingen)
Kari
Palonen (Jyväskylä)
Bernd Roeck
(Zürich)
Paola
Zambelli (Florenz)