Gadamer-Professur 2001:

Karl Heinz Bohrer: Texte

"Das ist das letzte Gefecht"
Zeit-Gespräch mit Karl Heinz Bohrer, 7. März 1997


Die Zeit: Herr Bohrer, vor zwanzig Jahren haben Sie schon behauptet, das Bürgertum sei "ohne Charme" und diskret sei es auch nicht. In einem begleitenden Kolloquium zum Jubiläum des "Merkur" rufen Sie wieder das Ende der bürgerlichen Gesellschaft aus. Das aber wäre auch das Ende ihrer Zeitschrift.

Karl Heinz Bohrer: Oh, ja, das ist auch der Grund, warum wir das machen. Natürlich hat das mit der Zukunft der Zeitschrift zu tun. Seit fünfzig Jahren, eigentlich schon seit dem Ersten Weltkrieg redet man über das Ende der bürgerlichen Gesellschaft, und zweifellos ist die bürgerliche Gesellschaft durch den Nationalsozialismus in Deutschland so unterminiert worden, daß wir in der gesamten Nachkriegsepoche mit diesem Problem leben müssen, aber auch können. Allerdings hat sich in den letzten Jahren dieser Prozeß einer weitgehenden Egalisierung, auch einer Proletarisierung von Verelendung und der Zerstörung von Kriterien des Bildungsbürgertums so beschleunigt, daßjene Prophezeiungen anläßlich des Ersten Weltkrieges nun wirklich eingetreten sind. Aber erst heute beginnt der Diskurs in den traditionellen Institutionen sich aufzuweichen. Auch berühmte Verlage, wichtige Zeitungen zahlen Tribut in diese Richtung. Und Sie haben mit Ihrer ironischen Frage zweifellos recht: Das ist das letzte Gefecht. Ich bin mir nicht im klaren, wie lange unter den gegebenen Medienbedingungen, der "Merkur" eine Chance hat, auf diese Weise zu arbeiten. Sollte ich das Gefühl haben, daß das nur noch ein Perpetuum mobile ist, ohne wirkliche Innovationen gedanklicher Art, dann würde ich vorschlagen, den Merkur einzustellen.


Wenn der Untergang jetzt schon so lange dauert, ist es nicht vorstellbar, daß in westlichen Gesellschaften ein Umbruch stattfindet, bei dem die alten Kategorien nicht mehr greifen? Daß das, was Sie kulturpessimistisch betrauern, einfach keine gesellschaftliche Basis mehr hat? Postmoderne Kultur- und Gesellschaftsutopien haben ja eine ungetrübte Beziehung zu neuen Technologien. Der Umbruch ist für sie die erste Gestalt des Neuen.

Ihre Frage berührt ein äußerst kompaktes Thema: Sie haben von Utopie gesprochen, von Kulturpessimismus. Ich bin, wenn Sie wollen, eher Modernist in einem nostalgischen Sinne. Ich sehe nicht, was über den Bewußtseinsroman eines James Joyce, einer Virginia Woolf und eines Musil hinausgeführt hat. Auch die großen Paradigmen abstrakter Malerei sind für mich unhintergehbar. Versuche, die das nicht mitreflektieren, laufen notwendigerweise auf Kitsch hinaus. Ich sehe diesen Gefühls- und Themenkitsch derzeit allerorten. Stichwort: der neue Berlin-Roman, wo ein Inhaltsrealismus der trübsten Art gefeiert wird.

Aber eine ästhetische Restauration will ja noch mehr: Sie möchte den alten Gegensatz von Geist und Macht wiederherstellen. Das müßte ihnen gefallen. Der "Merkur" lebt doch davon.

Gewiß tut er das. Wovon sollte er denn auch zehren?

Nun spricht aber Niklas Luhmann vom Verschwinden des Politischen. Es wandert in Subsysteme aus - und damit ist die alte Konfrontation von Geist und Macht passé. Wo ist dann noch der Ort der Intellektuellen?

Zunächst einmal kann ich hier nicht unbedingt die Analyse meines Bielefelder Kollegen Luhmann übernehmen. Seine binären Systeme, in denen die Ästhetik in der Rolle des Hasen ist, der sich vom Igel der Soziolgie sagen lassen muß: ich bin schon hier, sind für mich nicht stichhaltig.

In meiner Vorstellung ist es nicht inkonsequent zu sagen: Es gibt im Raum der schieren Ästhetik oder des schieren Argumentierens Möglichkeiten. Ob das gesellschaftlich durchschlägt, ist eine andere Frage. Und was die Intellektuellen angeht: ich habe eigentlich immer, schon um 1968, Probleme mit der Utopie gehabt. Ein Beispiel: Ich sympathisierte zwar politisch mit den Achtundsechzigern, so wie ich mit Sartres Radikalität seiner antikolonialistischen und antibürgerlichen Intellektualität sympathisiert habe. Aber wenn es zwischen Camus und Sartre zum Streit über die geschichtsphilosophischen Fragen kam, dann war ich damals schon auf seiten Camus' gegen Sartre. Und damit habe ich diese Frage eigentlich schon beantwortet. Ich war, was geschichtsphilosophische Positionen betrifft, und das heißt auch Utopien, schon von Natur aus skeptisch. Viel mehr aber noch durch Nachdenken und Analyse; ob das nun Hegel betraf oder Condorcet. Ich vertrat eigentlich immer die Seite, die in den absehbaren Zeitverläufen und teleologischen Systemen der Geschichtsphilosophie einen Widerspruch witterte.

Der Geschichtsphilosoph ist offensichtlich ihr Lieblingsgegner. Als Sie Herausgeber des "Merkur" wurden, haben Sie diese Gegnerschaft programmatisch gemacht. Radikaler Ästhetizismus statt geschichtsphilosophischer Tröstungen. Warum eigentlich?

Ich würde statt Ästhetizismus lieber ästhetische Weltauffassung oder ästhetische Philosophie sagen. Obwohl ich auch den Vorwurf, der in Ihrer Frage liegt, akzeptiere. Das ist ja ganz naheliegend, das höre ich mir schon an. Aber ich stehe damit in einer relevanten modernen Tradition: Erfunden wurde der Ästhetizismus, von dem wir sprechen, durch die deutsche Frühromantik: Friedrich Schlegels Kritik des geschichtsphilosophischen Revolutionsbegriffes und seine Ersetzung duch dezisionistische Kategorien - das Hier, das Jetzt - , die Sie übrigens bei Heinrich Heine genauso finden wie bei Walter Benjamin. Deshalb warne ich davor, die ästhetische Weltauffassung direkt durch Ästhetizismus zu ersetzen. Man muß da die Komplexität sehen: Es gibt eine ästhetische Weltanschauung, die sehr schnell zum Ästhetizismus wird. Aber zunächst ist sie nicht anderes als ein notwendig gewordener Einwand gegen die Struktur der sich fortschreibenden Entwicklung zu einem Telos hin. Die Vorstellung einer sinnvollen Abfolge der Weltgeschichte und des Menschen, so wie die Aufklärung sie gedacht hat, ist natürlich die Säkularisierung eines theologischen Denkens. Das ist, ohne daß dies die Mehrheit der deutschen Intelligenz bemerkt hätte, auf jeder Ebene passé. Ich halte also Geschichtsphilosophie noch immer für einen falschen Weg, aber ich glaube, daß der Versuch einer ethischen, sozialen und politischen Artikulation des Gemeinwohls und unserer Existenz sich möglicherweise solchen Kategorien nie ganz entziehen kann. Deshalb wirkt deren Kritik durch Ästhetik als ein Skandal.

Glauben Sie etwa, daß eine Ästhetik, wie Sie sie definieren, politisch neutral ist?

Es ist natürlich keine Frage, daß diese ästhetische Weltauffassung immer Gefahr läuft, reaktionär und, was die Essenz des Selbstdenkens angeht, melancholisch zu werden.
Der reaktionäre Melancholiker lauert immer hinter ästhetischen Positionen, mit denen ich sympathisiere, so wie der fanatische Politruk hinter Positionen lauert, die etwa Rousseau befürwortet hat.

Konservative Kreise waren immer der merkwürdigen Auffassung, daß ein linksmoralisches Milieu entscheidenden Einfluß auf die Politik und die öffentliche Meinung der alten Bundesrepublik ausgeübt hat - trotz Kohl. Von solcher Dominanz, wenn es sie je gegeben hat, ist nach der Wiedervereinigung nicht mehr viel zu spüren.

Das sehe ich gar nicht so. Als soziale Schicht hat sich das Milieu keineswegs aufgelöst. Ich bitte Sie, die deutschen Universitäten werden nach wie vor geprägt von diesen Leuten. Und wenn man auch heute nicht mehr ständig von sozialer Relevanz spricht, so ist die Haupttendenz der heutigen Literaturwissenschaften natürlich trotzdem wiederum, heilige soziale Kategorien heranzuschaffen. Die Medienkittkriterien, der Begriff der Kulturwissenschaft. Die Animosität gegenüber dem, was ich Ästhetik nenne, ist größer denn je. Ich mißtraue all den umgeschminkten ehemaligen Geschichtsphilosophen, die sich zur Zeit in Ästhetik überschlagen und damit "schöner wohnen" meinen oder Ökologie, sprich Ästhetik der Natur. Aber ich hoffe sehr, daß sie an anderer Stelle gewisse Positionen wiederaufnehmen, denn man kann in der Welt ja nur im Dialektischen, im Streit leben. Denn sonst wäre die Welt zu Ende.

Die Vorstellung, daß ein linksmoralisches Milieu, wie Sie es nennen, die Gesellschaft spaltet, ist einigermaßen abwegig. Das Land droht vielmehr an einer dramatischen ökonomischen Krise zu zerbrechen. Könnte es nicht zu intellektuellen Radikalisierungen kommen, die mit der alten Opposition "Geschichtsphilosophie" contra "Ästhetik" gar nichts mehr zu tun haben?

Das sehe ich im intellektuellen Bereich nicht so. Das sehe ich eher in der arbeitslosen Arbeiterschaft. Da besteht die Möglichkeit zu sozialen Unruhen bis hin zu Situationen, wie wir sie in der Weimarer Republik hatten, sehr stark. Wir leben in einer so gefährlichen Situation: fünf Millionen Arbeitslose und eine nicht durchdachte Konzeption von Europa, in der jeder politische und kulturelle Begriff fehlt. Jede Vorstellung von Institutionen, von einem Parlament, von genuinen, differenten Wirtschaftsmentalitäten der verschiedenen europäischen Nationen, ganz zu schweigen von der kulturellen Differenz, der Sprachlosigkeit zwischen Deutschen, Engländern, Franzosen.

Und wie erklären Sie sich die skandalöse Müdigkeit der Intellektuellen, diese Fragen zu diskutieren?

Ja, es gibt eine ungeheure Erschöpfung. Das utopische Geschwätz ist widerlegt. Ich sage das nicht etwa mit Freude oder Genugtuung, sondern mit einer gewissen Art von Melancholie. Die linke utopische Prägung der westdeutschen Intelligenz, die sogar notwendig war, ist durch den Staatsmarxismus und dann durch die Wiedervereinigung ruiniert worden. Na und? Die schon in den achtziger Jahren beginnende Nachlässigkeit in den Konzeptionen des Utopischen hat so viel Kraft verbraucht. Na und? Es müßte weiterargumenteirt werden, auch mit Blick auf eine antikapitalistische Konzeption. Die Frage, ob mit dem Verschwinden des Staatsmarxismus und seiner Utopie, ob damit die Probleme des Kapitalismus erst beginnen - das ist längst ein Thema geworden. Daß so wenige alte Linke daran arbeiten, wundert mich schon.

Ja, wenn der Gesellschaftskritik das Ziel abhanden kommt, dann wird sie zwanghaft müde.

Was soll ich dazu sagen?

Nachdem Sie jahrzehntelang den politischen Intellektuellen demontiert haben und ausgerechnet jetzt dessen Desengagement beklagen, dann bedeutet das wohl: Sie stehen vor den Ruinen ihres eigenen Erfolges?

Grotesk! Nein, das ist nicht unser Erfolg. Der "Merkur" war immer eine heilige, kleine Zeitschrift und eine ganz einsame Geistestätigkeit von Paeschke und dann von mir und meinem Mitherausgeber Kurt Scheel.

Dem "Merkur" ist noch vor der Veröffentlichung im "Spiegel" die ungekürzte Fassung des "Anschwellenden Bocksgesangs" von Botho Strauß angeboten worden. Warum haben Sie diesen Text damals abgelehnt?

Ich glaube, deshalb, weil ich verletzt war, gewisse Instinkte und Verwerfungen von mir selbst auf eine so naive Weise und mit quasireligiösen Wörtern konservativ-revolutionärer Einfärbung ausgestattet vorgeführt zu bekommen. Das heißt, vielleicht war es eine narzißtische Kränkung. Und auch, weil ich Strauß für einen hervorragenden Schriftsteller halte und die Feindschaft der deutschen Intelligenz gegen ihn verächtlich finde.

Der Strauß-Text ist dann von einem bestimmten rechtsnationalen Milieu inhaliert und in dem Sammelband "Die selbstbewußte Nation" nachgedruckt worden. Das war der Versuch, einen Rechtsdiskurs mit Berufung auf Carl Schmitt und Ernst Jünger zu begründen - und durch Schriftsteller wie eben Botho Strauß autorisieren zu lassen. Haben Sie nie Angst gehabt, daß ihre ästhetische Wende im "Merkur" mißverstanden werden könnte? Einem bestimmten Milieu hat das ja gut gefallen.

Nein, ich habe seit meiner Zeit als Autor von "Surrealismus und Terror" Kontaktversuche aus dieser Richtung erlebt. Das begann damit, daß der alte Carl Schmitt mir auf dieses Buch hin einen Brief schrieb und in mir einen jungen Weiterdenker seiner Positionen vermutete. Er schickte mir ein Buch von sich selbst, schrieb dann als Motto aus diesem, seinem Buch einen markanten Satz und setzte einen weiteren, ihm markant erscheinenden Satz aus meinem Buch darunter. Ich war damals nicht etwa geschmeichelt, von einem so bedeutenden Kopf in dieser Form angesprochen zu werden, sondern war so entsetzt, daß ich quasi in meine Zelle ging und über mich selbst nachdachte. Das war die Zeit, als ich in schwersten Auseinandersetzungen mit meinen linken Freunden lebte, und dieser Brief von Carl Schmitt war natürlich fast eine Bestätigung von deren Vorwürfen. Dann habe ich mich ruhig noch einmal mit mir selbst versammelt und kam zu dem Schluß: Carl Schmitt irrt. Hat er auch, denn als die "Ästhetik des Schreckens" erschien, distanzierte er sich völlig von mir. Das war ein richtiger Verdammungsbrief.

Also wieder: Metaphysik und Transzendenz statt scharfer, tröstungsresistenter Analyse - wie bei der Linken.

Es gibt nur ein Prinzip: nämlich den traditionellen Modus von meiner Subjektivität. Das heißt: Ich kann über Fichtes oder Kants oder Descartes' transzendentalen Subjektivitätsbegriff niemals hinaus, und gerade diese Attacke von Carl Schmitt gegen die deutsche Romantik als subjektive Vernunftromantik hat mir gezeigt, wo die Grenze verläuft.
Das war nie eine Frage, denn die grundintellektuelle Sünde, die dieser Teil einer neuen intellektuellen Rechten begangen hat, ist nicht so sehr dieses oder jenes Urteil, das skandalös sein mag und wo ich vielleicht manchmal sogar sympathisiere, sondern die erkenntnistheoretische Voraussetzung: Diese Leute glauben nämlich, das Subjekt, das Ich, die Reflexivität zugunsten eines neuen Objekts aufgeben zu können. Im Hinblick auf das, was Schelling und die späten Frömmler einschließlich Hegel daraus gemacht haben. Der liebe Gott wird wieder eingeführt. Statt Gott können Sie auch Körper einsetzen oder Mythos. Mythos ist in meiner Terminologie immer nur ein Subjektentwurf, eine Imagination, aber niemals die Substituierung Gottes durch neue Inhaltlichkeiten.
Das ist dann nun wirklich die rechte Front. Sie merken schon, ich werde jetzt so nachdrücklich wie fast überhaupt nicht mehr, weil ich das wirklich hasse, denn es macht es der banalen linken Kritik so leicht.
In Deutschland ist diese neue Frömmigkeit ja leider sehr massiv aufgetreten und hat auch etwas mit den Utopien der alten Linken zu tun. Vergessen Sie nicht: Bei den Achtundsechzigern und Linken gab es eine starke Tradition der Pastorensöhne, und die haben tatsächlich an neue Erlösungskonzepte gedacht. Ich glaube, daß Botho Strauß' Kulturkritik nur eine ins Diffuse verschobene Art von Kritik an der Entfremdung ist. Das kann der "Merkur" nicht akzeptieren. Dann sind wir eben entfremdet.

Ist das Pastorensyndrom der Grund, warum Sie von ostdeutschen Intellektuellen nicht lernen wollen?

Meine Gottesferne hat sicher etwas damit zu tun. Ich habe mit dem Herausgeber von Sinn und Form, Sebastian Kleinschmidt, vor fünf Jahren anläßlich eines Kolloquiums ein privates Gespräch geführt. Auf die Frage: Herr Bohrer, wie leben Sie denn ohne die letzte Idee? antwortete ich: Ach wissen Sie, das weiß ich so auch nicht. Aber ich glaube, als wir Jungen damals nach 45 die amerikanischen Götter aus dem Meer steigen sehen, die Kaugummi lutschten und freundlich waren und diese wunderbare neue Musik spielten, die von den Nazis in der stupidesten Satire verblödelt worden war - "Heute ist Negerjazz auf dem Alexanderplatz" - da haben wir zum ersten Mal einen Schritt in die Säkularisation getan. Das hieß: Nicht nur weg von den Göttern des Faschismus, sondern zur Menschlichkeit ohne Gott. Und ich habe ihm noch gesagt: Wissen Sie, den Krieg haben die Amerikaner gewonnen, indem sie jazzend aus dem Meer herauskamen, vor diesen tapferen, aber tumben und vollkommen anachronistischen deutschen Soldaten. Das war der Triumph der Säkularisation. Ohne Götter human zu sein.



Ausschnitte aus "Die Grenzen des Ästhetischen", veröffentlicht in "Die Grenzen des Ästhetischen", Hanser, München 1998


Ein Terror liegt über dem Land: Die Akzeptanz des Ästhetischen. Die Sphäre, die man noch bis vor einem Jahrzehnt ehrlicherweise dem generellen Diskurs als nicht zugänglich empfand, scheint nunmehr dessen prominente Stimme geworden.

[...] Der Tatbestand einer "Ästhetisierung der Lebenswelt" läuft ganz in Richtung eines hygienischen Kunstverständnisses, das die irrationalen, provokativen Elemente innerhalb einer modernen Fortschrittsgesellschaft von der Kunst gern absorbieren läßt, um sie um so leichter dem rationalen Programm integrieren zu können: Die Sphäre der Kunst ist der Sphäre der Nichtkunst funktional symmetrisch angepaßt. [...]

War er (der ästhetische Kern) vorher bedroht durch den Absolutheitsanspruch des historischen Diskurses, ist er jetzt bedroht durch seine Verwechslung mit der hedonistischen Lebenswelt. [...] Die ästhetische Grenze so strikt zu beachten, hat indes sehr weitreichende Konsequenzen im Erklären von Kunstwerken, auch wenn sie vorerst nur als methodologische, das heißt wissenschaftsinterne erscheinen. [...] Betroffen von der Wahrnehmung der ästhetischen Grenze ist aber auch diejenige Deutungsschule, die sich auf ihre ästhetische Sensibilität mit Recht viel zugute hielt und zu der wohl der bedeutendere Teil der hiesigen Literaturwissenschaft gehört: Die Hermeneutik. Von der ästhetischen Grenze aus betrachtet, wird nämlich erkennbar, daß es ihren wichtigsten Vertretern, beginnend mit Gadamer selbst, gar nicht eigentlich die Benennung des künstlerischen Phänomens ging, sondern ebenfalls um eine historische Erkenntnis: Die Erkenntnis von der eigenen geschichtlichen Bewußtseinssituation gegenüber dem geschichtlichen Bewußtsein des ästhetischen Gegenstandes, der durchweg als ein historisch weit entfernter angenommen wurde.

Die zentralen Kategorien der Hermeneutik, also etwa "Horizontverschmelzung", bleiben ästhetik-theoretisch blind. Merkwürdigerweise ist dieses ästhetik-theoretische Defizit einer der Ontologie Heideggers entstammenden Hermeneutik [...] nicht diskutiert worden, obwohl doch gerade Heideggers Deutung der Hölderlinschen Sprache etwa Ansätze zu einer spezifisch ästhetischen Theorie der Selbstreferenz bietet, sieht man einmal von seinem ontologischen Apriori ab, das Adornos Kritik zu Recht auf sich zog. [...]

Was bedeutet Selbstreferenz im Ästhetischen eigentlich, wenn es nicht Beliebigkeit, Formalismus und damit schließlich Bedeutungslosigkeit implizieren soll? Wie kann ich dieser Implikation als notwendiger entkommen, ohne letztlich doch wieder auf eine Metaphysik des Ästhetischen zurückzufallen? Hier eröffnet sich für das Argument mit der ästhetischen Grenze eine gedankliche Falle, in die nicht hineinzutappen fast nur garantiert erscheint, wenn man die Definitionsansprüche sehr bedeckt hält! Ich möchte hier auch gar nicht den Versuch machen, das Vakuum wirklich zu füllen, sondern eine Bedingung für einen solchen Versuch nennen: Man wird unterhalb der von Lyotard und George Steiner gesetzten Kategorien bleiben müssen, nämlich zwischen der Skylla eines ornamentalen Verzichts auf jede Bedeutung und der Charybdis einer Überreferentialisierung auf höchste Bedeutung.

[...] Die Grenzziehung (des Ästhetischen) ist notwendig, weil sonst die erwähnten banalisierenden Mißverständnisse des Ästhetischen als das Hedonistische oder das Humane oder das Soziale auftreten. Je reiner der ästhetische Kern erhalten ist, um so größer die Strahlkraft nach außen: Diese geschieht allerdings nicht als sozialkritische Korrektur des generellen Diskurses, sondern vielmehr als dessen Irritation. [...] Die Irritation des Diskurses vollzieht sich nämlich als Subversion der Gültigkeit seiner normativen Begriffe. Gerade weil der generelle Diskurs selbst (entgegen Derridas Theorie) keine ästhetischen Elemente besitzt, [...] weil also der Diskurs a-ästhetisch ist, kann die ästhetische Subjektivität subversiv auf ihn zurückwirken.


"Der letzte Ästhet - Zu den Schriften Karl Heinz Bohrers", Franz Schuh in der Zeit, 2. April 1998.


"Bohrer ist ein kenntnisreicher Stratege in einem Literaturkampf, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es ihn überhaupt noch gibt; es könnte ja auch sein, daß die herrschende, mit Interessen aufgeladene Indifferenz jede kämpferische Haltung automatisch als Idiosynkrasie ad absurdum führt." [...]

"Es stellt sich naturgemäß die Frage, was macht ein solcher "poetischer Nihilist" praktisch? [...] Die Antwort ist einfach: In der Praxis vergißt der poetische Nihilist, daß er einer ist. Nihilismus ist - nach Bohrer - nämlich keine Theorie, die sich "umsetzen" ließe, schon gar nicht in alltägliche Praxis, denn das wäre in der Tat sehr gefährlich. Der poetische Nihilismus lehrt im Gegenteil, daß es auf die Frage nach einer Ethik des Nihilismus keine theoretische Antwort geben kann."

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Letzte Änderung: 29.05.2008